Neue Texte

17. Mai 2024: aus meinem Roman über Monika Mann

New York

Zu Jahresbegin 1942 schreibe ich einen Brief an Molly Shenstone in New York. Meine Zeit am Pazifik sei bedauerlicherweise bald abgelaufen. Ob sie mir für die nächsten Wochen ein Zimmer besorgen könne, damit ich mir eine eigene Wohnung suchen könne, frage ich sie. Im Frühjahr reise ich zum ersten Mal nach New York, eineinhalb Jahre, nachdem ich von Schottland aus mit dem Schiff dort angekommen war.

Mein vorübergehendes, kleines Zimmer im siebten Stock eines Vierzig-Parteien-Hauses in Brooklyn erlaubt nach vorne einen Ausblick auf die Straße und ein Häusermeer und nach hinten auf Bahngleise und ein weitläufiges Industriegelände. Dennoch habe ich den Eindruck, dass ich mich in der neuen Umgebung ein klein wenig erhole. Vorsichtig blicke ich mich in der Haus-Nachbarschaft um. Die Klingelschilder verraten einen hohen Flüchtlingsanteil: aus Südamerika und aus Osteuropa scheinen viele Hausbewohner zu stammen. Ich beginne, ausgedehnte Spaziergänge in den naheliegenden Prospect Park, wo ich auf andere Gedanken komme, wenn ich den Menschen bei ihren Tätigkeiten zusehe. Die Zeitungen studiere ich nach der Inspizierung von Wohnungsanzeigen.

Nach ein paar Monaten werde ich jedoch dank der Vermittlung von Klaus, der auch in Brooklyn wohnt, fündig, und kann den Eltern die erfreuliche Nachricht senden. Ich treffe mich einmal kurz mit ihm, aber ein Gespräch kommt kaum zugange. Er ist mit der Auflösung seiner Zeitschrift „Decision“ beschäftigt. Mein Bruder sieht mich kaum an, seine Blicke irren umher, wenn er hastig mit mir spricht, was mir die Gewissheit gibt, dass es ihm nicht gut geht. Sicher hat es nichts mit mir zu tun. Er nuschelt fast, als hätte er Angst, jemand Fremder könne ihm zuhören und ihn denunzieren. Sein Lebenswerk sieht er in größter Gefahr. Er weiß nicht, wie es mit ihm weitergehen soll. Ich glaube, er will verhindern, dass ich seine Verzweiflung sehe. Erst recht, weil ich momentan in einer ähnlichen Situation bin, wobei es mir dabei verhältnismäßig gut geht. Obwohl ich noch nirgends zuhause bin, hier noch nicht angekommen, am Pazifik nur für ein paar Monate in Carmel heimisch geworden, und mich noch immer nicht in der Lage sehe, mich länger als fünfzehn Minuten zu konzentrieren. Ich glaube, mein Zustand nach dem Unglück war ihm nicht bewusst. Doch war es gut, die Verbindung mit Klaus angerührt zu haben. Wir umarmen uns beim Abschied und ich wünsche ihm viel Erfolg bei der Army in Europa. In der Hand die Adresse einer neuen Wohnung in der Nähe des Central Parks.

 

7. Mai 2024: Lilien

Raue Sandsteinstufen hinter den beiden Thujen. Die schwere Bronzetüre ist angelehnt.

Im Vorraum duftet es nach der feuchten Kühle des Übergangs von dieser Welt in eine andere. Bunt bedruckte Hefte in Metallregalen, verbogen vom Zugwind und vom Blättern der Menschen auf der Suche nach einer Ablenkung.

Hinter der Rauchglastüre mit dem quadratischen Griff aus goldgelbem Glas öffnet sich der Hall nach vorne bis an die hochgezogenen schmalen Fenster, zwischen denen Heiligenfiguren stehen.

Noch ist das Licht hellblau, eine Schutzwolke legt sich über mich. Die Lilien auf dem Sandsteintisch leuchten so weiß, dass ich sie berühren muss. Ich fühle die zarte, lederartige Oberfläche der Blütenblätter, deren sanfte Rillen und den weichen Rand. Wie ein Schmetterling, strahlend und ein wenig durchscheinend, schwingt das Blütenblatt zwischen meinen Fingern, löst sich und schwebt an mir vorbei. Ein Fenster ist gekippt.

Ein paar Meter neben mir das Geräusch eines auf den Boden fallenden Tuchs, doch ich schrecke nicht zurück, denn ich kenne diesen Laut. Fast immer begrüßt er mich hier. Auch in anderen vertrauten Räumen. Ich weiß, dass ich nicht alleine bin, obwohl niemand sonst zu sehen ist. Ein Luftzug streift mein Gesicht.

Von außen zieht eine leise Geigenmelodie an mein Ohr. Ich spüre den Klängen nach. Wie entstanden sie? Welche Form haben sie? Wohin schweben sie? Mit welchen anderen Geräu­schen werden sie sich vermischen? Wo werden sie sich in ihre Bestandteile auflösen?

Vor mir erscheinen die Töne wie Stare, die über den Himmel ziehen. Sie werden zum Schwarm, der eine Figur bildet, ein wehender Umhang aus mehreren Lagen. Eine Gestalt, die den Arm in Richtung der Empore hebt.

Auf eine der Orgelpfeifen strahlt ein Lichtfleck der Nachmittagssonne. Er bewegt sich. Von der langen Metallröhre abwärts und weiter über die Balustrade den Gang entlang bis vor meine Füße. Das Licht wandert für einen Moment in mein Gesicht. Der hellblaue Schein der Dorfkirche mischt sich mit einer Haselnusstönung. Das Weiß der Lilien ist in Zartgelb gewandelt, ihre Staubblätter stehen voller Kraft aufrecht und empfangsbereit. Ich sehe die Sicherheit des Seins in diesem Augenblick. Als die Geigenmelodie wieder ansteigt, spüre ich eine warme Hand auf meiner Schulter und höre leises Atmen. Es kam durch ein Tor von der anderen Seite des Lebens. Ich bin die Lilie.

 

 

21. April 2024: Haibun "FÜR DEN MOMENT"

(veröffentlicht in der Mitgliederzeitschrift SOMMERGRAS Nr. 144 der Deutschen Haiku Gesellschaft)

Er hat seine Rituale. Mit der gleichen Sorgfalt rollt er seine Futonmatte zusammen, wie er seine Musik für die Autofahrt auswählt.

Sprühflasche
die Liebe zu seinen
Ahornpflänzchen

Ein hübscher, stiller Mann mittleren Alters, durchdrungen von seiner einfachen Arbeit. Die Tage verlaufen ähnlich, doch die Details machen sie zu Kostbarkeiten. Kurze Begegnungen. Zuneigung und Ablehnung, wie süße und scharfe Bonbons. Abends krault er sich lächelnd an den Ohren.

Kreuze und Kreise
wer gewinnt das Spiel
mit einer Unbekannten?

Alter CD-Laden. Die Überfülle bis zur Decke. Die Freundin des jungen Kollegen gibt ihm einen Wangenkuss. Und verlässt ihren Freund.

Badeanstalt
im warmen Strudel
der Leichtigkeit

Der Obdachlose übt im Park Chi Gong. Man kennt sich und nickt sich zu. Ein kleiner Junge winkt zum Abschied. Jeden Tag ein Baumfoto in Schwarzweiß.

Sandwich
für das abgekantete Leben
eine fester Hülle

Die Substandart-Wohnung wirkt wie eine Idylle. Das Pflanzenlicht taucht den Hof in Violett. Abendliche Radfahrten zum Waschsalon und in die Bar. Auch Samstagsrituale erhalten ihre Zuneigung. Die Nichte übernachtet auf der Futonmatte. Ihre Mutter bittet darum, den Vater im Heim zu besuchen.

Kopfschütteln
kein Wort zu viel
über das Unveränderliche

Ein ruhiger Alltag, wie der Sprühnebel, der Ahornpflänzchen umhüllt.

Herbstregen
wie viele Augenblicke
hat ein Tag?

13. April 2024: Essay über die politische Rechte der Gegenwart

1. Gesellschaftliche Betrachtung

Das Aufkommen rechtspopulistischer Meinungen und Strömungen ist kein Phänomen unserer Tage. Ich erinnere mich an meine Studien- und Arbeitszeiten, in denen die NPD-Nachfolgepartei, die „Republikaner“, stark wurde, vermehrt Springerstiefel auf den Straßen auftauchten und in denen über Spätaussiedler aus Russland, die angeblich unsere Sozialsysteme plündern,verächtliche Meinungen ausgetauscht wurden.

Allgemein betrachtet ist die politische Rechte, wie auch linke Strömungen und Bestrebungen, einTeil des politischen Spektrums. Beiden Ausrichtungen liegen philosophische und soziologische Annahmen zugrunde, mit der sie sich die pluralistische Gesellschaft anhand eingängiger Leitsätze zu erklären und in ihrem Sinne zu verändern suchen. Doch hier soll es aus aktuellen Gründen um die politische Rechte gehen. Anstelle von Weltoffenheit treten Wünsche und Klischees, die sich zu festen Überzeugungen verhärtet und das Weltbild der politischen Rechten verschlossen haben.

Rechtsgerichtete Strömungen reichen von bürgerlich-konservativen über rechtspopulistische Positionen bis hin zu verschiedenen Erscheinungsformen des antidemokratischen Rechtsextremismus, die ihre äußersten Extreme in Bewegungen wie Faschismus oder Nationalsozialismus finden. Politische Rechte bedeutet im gegenwärtigen Sprachgebrauch extremere Positionen als konservativ-bürgerliche Einstellungen. (Wikipedia/Politische Rechte)

Rechte Gesinnung bedeutet allgemein, von einer Ungleichheit der Menschen auszugehen und infolgedessen gesellschaftliche Hierarchien zu befürworten. Diese Ungleichheit wird als gegeben, natürlich und wünschenswert betrachtet. Zwischen der klassischen Rechten, die die Ungleichheit durch Erbfolge und Familientradition gerechtfertigt sieht, und der liberalen Rechten, die Ungleichheit als Ergebnis des fairen Wettbewerbs für gerechtfertigt hält, ist zu unterscheiden. (Wikipedia/Politische Rechte)

Vordemokratische Gesellschaftsformen, wie das Kaiserreich,basierten auf tendenziell unumstößlichen Hierarchien. Nach der allmählichen Entwicklung zur Demokratiein der Folge der beiden Weltkriegetrat bei den politisch Rechten die oben genannten Strömungen an die Stelle der unbedingten Hierarchiesysteme.Heute beobachtet man häufiger ein Unterschiedsbestreben aufgrund eigener Arbeit. Dass Wettbewerb an sich fair ist, müsste eigentlich in jedem Einzelfall überprüft und abgewogen werden und kann als Ganzes betrachtet nur als Behauptung bezeichnet werden.

Dabei gehen wirtschaftliche und gesellschaftliche Unterordnungsideale Hand in Hand, was man an der Diskussion um das Bürgergeld erkennen kann. Häufig drehen sich Diskussionen um Privilegien oder um die Verteilung staatlicher Zuwendungen in der Gesellschaft. Ansprüche gegenüber dem Staat sollen in den Augen der Rechten nicht unbedingt jedem und jeder gewährt werden, sondern werden mit der Arbeits- und sogar der nach Rechts gerichteten Annäherungsbereitschaft der Menschen verknüpft.

Die politische Rechte schließt emanzipatorische, also angleichende und chancengerechte Gesellschaftsveränderungen aus. Gleichgültig, in welche Bereiche man blickt, seien es eine Überwindung des traditionellen Rollenverständnisses von Männern und Frauen, gleiche Bezahlung für Frauen, mehr Rechte und Rücksichtnahme für Menschen mit Behinderungen, Sozialleistungen für Geflüchtete und für Bürger/innen mit sehr niedrigem Einkommen oder die Anerkennung aller Bürgerrechte für Menschen mit nicht-weißer Hautfarbe:Die Bedeutung äußerlicher oder oberflächlicher Unterschiede zur eigenen Person wird in extremer Weise überbewertet und in den absoluten Vordergrund gestellt. Anders wahrgenommene Personen werden demzufolge pauschal abqualifiziert.

2. Soziologische Einschätzung

Die bereits genannte Denkvorstellung der Monokausalität zwischen Erfolg(-sanspruch) und persönlichen Eigenschaften wie Fleiß oder Klugheit, bzw. familiärer Herkunft hat etwas mit dem alten Spruch, Jeder ist seines Glückes Schmied zu tun. Diese Redewendung aus der römischen Antike hat es in sich. Verweist sie einerseits auf die positive Selbstwirksamkeit des eigenen Handelns, negiert sie jedoch in der Unbedingtheit ihrer Aussage, dass es Schicksalsschläge, Krankheiten und Kriege gibt, in denen menschliches Handeln nur noch geringfügig zum Vorteil erfolgen kann. Nur, wer eine günstige Ausgangsbasis und ebensolche wirtschaftlichen Rahmenbedingungen sowie wohlgesonnene Mitarbeitende vorfindet, hat die Chance, sich diese Redewendung zu eigen zu machen. Politische Rechte, die sich jedoch in einer Krisensituation befinden, sind nur schwer in der Lage, diese umsichtig einzuordnen, sondern suchen die Schuldigen für die eigene Misere in der Außenwelt. Problematisch in meinen Augen stellt sich bei der Redewendung das Possessivpronomen dar. Offenbar zählt nur das eigene Glück.

Der Mensch wird nicht als Teil einer pluralistischen Gesellschaft erlebt, mit der man im Austausch steht und von der man gegenseitig profitiert, sondern man steht ihr gegenüber und befindet sich in einem andauernden Wettstreit mit den anderen, was sich in einer misstrauischen und feindseligen Haltung anderen Menschen gegenüber ausdrückt.

Daher kann festgestellt werden, dass eine ausgeprägte Gruppenbildung, die sich dadurch definiert, dass andersdenkende, -fühlende oder -aussehende Menschen explizit ausgeschlossen werden sollen, als demokratiefeindlich gesehen werden muss, da von Toleranz nicht mehr gesprochen werden kann. Erst recht teilen politische Rechte eine wenig ausgeprägte Fähigkeit zu Fürsorge, Empathie und Mitgefühl, es sei denn, es handelt sich um Mitglieder der eigenen Gruppe (bzw. Blase). Demokratie jedoch schließt u.a. die politische Gleichheit der Bürger ein.

Nicht zu vernachlässigen ist eine der zugrunde liegendenUrsachen, die „Wutmänner“. Aus einem SWR-Report vom 04.04.2024 geht hervor: „Die gegenwärtige Männerwelt ist dreigeteilt: Auf der einen Seite Männer, die bewusst Gleichberechtigung als gesellschaftlichen Fortschritt erkennen und sich engagiert als Partner, engagiert in der Haus- und Familienarbeit einbringen. Daneben das rückwärtsgewandte Drittel der Männer, die zurück wollen in die Geschlechterordnung von früher. Unter denen wächst eine Radikalisierung, die im Begriff ist, auch das mittlere Drittel erfassen zu können, deren Männerbild noch ambivalent und nicht gefestigt ist.“ Das Verhalten der lautstark auf der Straße auftretenden Leute stellt sich als aggressiv und angsteinflößend dar. Menschen, die offenbar nicht wissen, wohin mit ihrem Zorn. Dominante und erniedrigende Verhaltensweisen findenin der heutigen Gesellschaft, in der es an zu erlegenden Beutetieren oder Feinden mangelt, häufig keine sinnvolle Anwendung. Die Feindbilder und Bedrohungsszenarien werden in anderen Bereichen gesucht und gefunden, und es kommen viele Personengruppen in Frage, die das jeweils subjektive Gefühl der Bedrohung ansprechen. Doch sind die Hauptgruppen Frauen und Menschen, die in unbekannten Kulturkreisen sozialisiert wurden oder deren Hautfarbe nicht weiß ist. Ein Drittel der Männer in Deutschland wollen dem Report zufolge eine Gleichberechtigung zwischen Männern und Frauen nicht akzeptieren. 85 Prozent bejahen die Aussage, die Frau sollte ihrem berufstätigen Partner den Rücken freihalten. Dies sind Sichtweisen der Alpha-Männer. Doch es gibt auch die anderen: Manchmal sind Wutmänner sozial zurückgezogen, verfügen über wenig Selbstbewusstsein und tendieren zu verbrecherischen Einzeltaten aus dem Hinterhalt. Man nennt sie Incels (ein amerikanisches Mischwort aus „unfreiwillig“ und „enthaltsam“).

3. Psychologische Aspekte

Zusätzlich muss man immer wieder feststellen, dass die Entrüstung über einen vermeintlichen gesellschaftlichen Mangel in der Regel mehr Beachtung an sich zieht als die Zustimmung zu einem gelungenen Projekt. Dieser Aufmerksamkeitsmagnetismus verstärkt das emotionales Gift, das über die Gesellschaft gestreut wird. Negative Gefühle wie Angst oder Wut ziehen aus menschheitsgeschichtlichen Gründen auch im unmittelbaren Umfeld tiefere belastende Emotionen nach sind, als dies bei positiven Empfindungen der Fall ist. Um emotional aufgeladenen Stimmungen entgegenzutreten, sollte man sich über die Wirkung von Emotionen bewusst sein, um einen inneren Abstand herbeizuführen.

Bürgerinnen und Bürger, die um den Wert der freiheitlich demokratischen Grundordnung, um die Menschenrechte, Toleranz, Vertrauen und Wohlwollen wissen, sollten alles in ihrer Macht Stehende unternehmen, um rechten Tendenzen entgegenzuwirken. Sei es durch die Teilnahme an Aktionen oder Demonstrationen, durch Leserbriefe oder Meinungsbekundung in der Nachbarschaft, im Freundeskreis oder in den sozialen Medien.

Wie entgegnet man rechten Parolen? Sie bestehen meines Erachtens aus drei Teilen. Man spürt regelrecht, wie die mit einer Aussage transportierten Emotionen als erstes beim Empfänger ankommen und ihn oder sie mitziehen und öffnen. An zweiter Stelle steht eine gesellschaftliche Ausgangslage, die angeprangert wird, beispielsweise die Anzahl der Geflüchteten. Diese oft jedoch nicht reale Aussage fällt nach der erfolgten Emotionalisierung auf offene Ohren. Erst der dritte Teil der Äußerung: die Konsequenz aus der Ausgangslage, ist die Kröte, die von der empfangenden Person zu schlucken ist, indem sie zuvor wie beschrieben eingestimmt worden ist. Diese in meinen Augen wesentlichen Kernbestandteile müssen rasch erkannt und sofort hinterfragt bzw. in Frage gestellt werden. Zunächst muss eine Aussage von ihrem Gefühlsumhang befreit werden, damit das Mitschwingen der eigenen Gefühle verhindert wird. Weil es sich bei einer Entgegnung um eine Überraschungsverteidigung handelt, hat man es als Reagierender schwer. Man wird kaum wie aus der Pistole geschossen detailgenaue Antworten mit Quellenangaben parat haben. Allerdings kann nach dem Quellenmaterial des rechten Querulanten gefragt werden. Oder man fragt schrittweise nach der genauen Bedeutung des Gesagten und verwickelt die Person in Widersprüche. In Frage zu stellen sind auch pauschale und vorurteilsbehaftete Aussagen über Personengruppen. Stets sollte mit dem Argument der Menschenrechte, unserer demokratischen Verfassung und Gesetzgebung sowie mit der Plausibilität der Aussagen gekontert werden. Letztendlich darf man sich auch nicht scheuen, klare Grenzen zu setzen. Endlose Diskussionen erfüllen ihren Zweck in der Regel nicht.

4. Fazit

Wenn man bedenkt, dass eine wirklich gelebte Demokratie eigentlich erst seit den siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts, also gerade mal seit fünfzig Jahren besteht, wird man ein Gespür dafür entwickeln, wie fragil die Basis dessen ist, was wir tagtäglich erleben und genießen. Erst 1977 wurde die sexuelle Misshandlung in der Ehe unter Strafe gestellt. Freundschaften, offene Diskussionen, die Versammlungsfreiheit, die Freiheit der eigenen Meinungsäußerung, die Selbstwirksamkeit durch die Umsetzung eigener Ideen, das Herausbilden einer eigenen Haltung jenseits des einseitigen Strebens nach materiellem Besitz und die politische Mitwirkung nach den eigenen Idealen. All dies kann über kurz oder lang auf dem Spiel stehen und sollte im Alltag verteidigt werden. Auch wenn es nicht um die eigenen Rechte und Ansprüche geht, wie bei beifällig geäußerten Meinungen über „die Ausländer“, denen man höflich, aber bestimmt entgegentreten kann.

3. April 2024: Romanauszug: Der zweite Tag auf Capri

Warum schreibt man eigentlich?, fragt Signore Antonio. Um etwas festzuhalten?
Vielleicht ja, um etwas festzuhalten. Aber auch, um ganz tief in eine Sache einzudringen, sie von außen und innen zugleich zu sehen, sie zu spüren und so dem Kern des Lebens näher zu kommen.
Als was siehst du den Kern des Lebens?, fragt er.
Ich denke nach.
Das, was wir selbst als Kern des Lebens sehen. In Wirklichkeit ist es der Kern von uns selbst. Das tiefe Empfinden, das man manchmal sucht. Das man aber nicht finden kann, wenn man achtlos an etwas vorüber geht, aber auch nicht, wenn man achtvoll an etwas vorübergeht. Auch wenn man es fotografiert, findet man das tiefe Empfinden nicht oder nur ganz wenig. Ich meine das dichte Glück, etwas wirklich erlebt zu haben, einen Schatz zu tragen, ein Teil davon zu sein. Die Farbe von Gefühlen zu erkennen.
Antonio hört andächtig zu, erwidert jedoch nichts.
Stattdessen sagt er, lass uns wieder zurück gehen. Ich freue mich, wenn es dir hier gefällt.
Er nimmt meine Hand und drückt sie leicht. Ich drücke seine auch. An der Haustür lässt er sie wieder los. Wir sehen uns nicht an.
Ich würde mich gerne zurückziehen, sage ich und er nickt freundlich.
Morgen zeige ich dir, wo die wichtigsten Geschäfte zu finden sind. Dann bis morgen, sind seine Abschiedsworte.

Ich richte mich in dem kleinen Bad ein. Alles soll so verstaut werden, dass der Blick aus dem Fenster auf die Faraglioni-Felsen nicht gestört wird. Auch nicht durch einen Gegenstand der auf der Ablage der Kommode, die annähernd in der Nähe des Fensters steht, mit einer durchdringenden Farbigkeit die Aufmerksamkeit zu locken gedächte. Das Fenster ist der Weihetempel der Felsen! Erst wenn ich alles erledigt habe und mir mein Ergebnis gefällt, dusche ich mich. Sich einzurichten, ist geborgenheitsfördernd. Das Schränkchen ist bald voll, aber nicht dicht gefüllt, so dass ich alle Döschen und Tuben gut erreichen kann. In Sicht- und Griffhöhe. Unten die Handtücher. Alles soll seinen bestmöglichen Platz haben. Wenn schon ich nicht immer den besten Platz einnehmen konnte. Morgen möchte ich mir ein paar hübsche neue Handtücher kaufen. Deren Farben gut zu den weißen Wandfliesen und dem grau gefliesten Boden passen. Klare, frische Farben. Meine sind beige, verwaschen und dünn geworden. Für Rom haben sie noch getaugt. Doch hier ist Vieles anders. Nicht nur das Licht, der freie Himmel, die bizarre Landschaft und die Stille. All dies wirkt sich auch auf mich aus. Ich fühle mich als eine etwas andere. Eine neue Seite an mir erkundend. Die Dinge neu sichtend und sortierend. Im Bad hat alles seinen Platz gefunden. Und auch ich, kommt mir in den Sinn.

Wir gehen hinauf ins Dorf. Der Belvedere hängt verlassen am Felsen, der kleine Hafen, die Marina Piccola, ein verschlafenes Idyll im endlosen Wellengrau. Tief taumelnde Wolken, als wären die Klammern an der Himmels-Wäscheleine, an denen sie wie Tischdecken hängen, die nach dem Waschen nicht ganz sauber geworden sind, diese Klammern ein wenig zusammengerutscht. Auf der Piazzetta ist noch nicht viel los. Die Läden sind bereits geöffnet, die Besitzer lesen in ihre Jacken gehüllt die Zeitung oder trinken einen Espresso und unterhalten sich miteinander über das Wetter und die Geschäfte. Eine Handvoll Kundinnen, teilweise begleitet von ihren Partnern, trottet mit den Einkäufen in die verschiedenen Richtungen. Im Vorbeigehen überspanne ich den hübschen Platz mit seiner Kirche, dem Turm, der Mauer und den Gassenschluchten mit einem wohlwollenden Blick und gebe einen Teil der Zufriedenheit, die ich von diesem Platz empfangen darf, den einzelnen Menschen in Gedanken mit auf den Weg. Über den Häusern kann man ausschnittsweise am anderen Berg Anacapri und einige Felder dazwischen erkennen. Autos tuckern, Hunde bellen, ein Gemurmel von Passanten und das Rufen von Kleinkindern. Antonio stellt mich den Ladenbesitzern vor. Wir kaufen ein und bezahlen getrennt. Lebensmittel, Haushaltsartikel und Handtücher. Zwei hellrote, zwei orange- und zwei türkisfarbene. Und die passenden Waschlappen sowie Gästehandtücher.
Na, du deckst dich ja schon für länger ein, schmunzelt Signore.

 

Birgit Heids Schreibprojekte

Ich arbeite derzeit an einem Roman über die Schriftstellerin Monika Mann. Darüber hinaus habe ich mich in den letzten Jahren auf die literarische Erforschung der neolithischen Massaker in Herxheim konzentriert. Meinen Werken lasse ich eine fundierte Recherche und ein tiefes Verständnis für die menschliche Geschichte angedeihen.



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