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10. Dezember 2024 „Aber Kirchhöfe habe ich schon immer gemocht.“ Zitat aus „Alte Sorten“ von Ewald Arenz

Mit den heiligen Tempeln des Christentums hatte ich als Zehnjährige kaum etwas anfangen können. Der goldfarbene Prunk, die aufwändig gekleideten Altarfiguren, die weihevollen Haltungen, wenn sie Kerzen, Geräte oder Salzfässer trugen, dienten in meinen Augen nur dazu, die Gläubigen davon abzuhalten, das Tiefere zu schauen. Fast immer wiesen die kirchlichen Ausstattungen auf eine Oberfläche, unter die zu schauen nicht gestattet war. Je länger ich mich jedoch darüber ärgerte und aufregte, umso deutlicher erwuchs daraus der Keim der Neugier in mir. Warum nur sollte man nicht hinter den Glanz schauen können? Was würde zum Vorschein kommen, wenn diese Figuren abends ihre Kleidung ablegten, den weihevollen Gesichtsausdruck zurechtrückten, ihren wirklichen Gefühlen Ausdruck gaben und ihren körperlichen Bedürfnissen nachgingen? Diese Gedanken begannen mich mehr und mehr zu faszinieren.

 

Um meinem Ansinnen näher zu kommen, suchte ich in der Pfarrkirche meiner Gemeinde im Laufe eines halben Jahres zwei Figuren aus, die mir besonders interessant erschienen. Das eine war die große Holzfigur der heiligen Maria und das andere ein Bild vom heiligen Georg. Maria schien mir besonders interessant, weil ihr Gesicht so ausdruckslos erschien, als würden dicke Schichten von Masken darauf liegen. Ausgerechnet eine so besondere Mutter, die ihr kleines Kind auf dem Arm trägt, müsste es doch eigentlich liebevoll anblicken, ihm sanft über das Köpfchen streicheln oder ihm einen Nasenstüber geben. Doch Maria trägt nur mechanisch ihr Kind, hämmerte es in meinem Kopf, denn ich kannte die Fotos meiner Mutter, wie sie ihre Kinder umsorgt hatte, als sie Wickelkinder waren. Wie sollte ein Jesus barmherzig mit Armen und Kranken sein, wenn er nicht auch ebenso geliebt wurde, wie ich zu jener Zeit?

Der heilige Georg hingegen war mit einem engelhaften, ja zärtlichen Gesichtsausdruck gesegnet, der mich reizte, sein Antlitz auf dem Holzgemälde zu berühren. Zugleich war er jedoch mit dem auf dem Boden liegenden Drachen beschäftigt, der sein Haupt und seine Blicke angstvoll den Pferdeleib entlang zu dem kämpfenden Reiter richtete. So schön, dachte ich, würde ich auch gerne aussehen, wenn ich im handfesten Streit mit einem aufdringlichen Schulkameraden lag. So siegessicher. Im Geiste schien Georg bereits das Drachenfleisch auf dem Grill zu sehen. Seine Familie gesättigt und zufrieden zu wissen und seine Frau stolz auf ihn, hätte er nur bald das feuerspeiende Ungeheuer erlegt. Der Heilige wirkte zart und entspannt, während er die Lanze nach dem Kriechtier ausfuhr. Er schien ungeheure Kräfte zu haben, weil man es ihm noch nicht einmal ansah, und was ihn in ein Licht des absolut Unbesiegbaren hob. Es war, dachte ich nach einiger Zeit, deutlich zu viel der Stärke, es war anmaßend, obwohl ich in seine Schönheit ein wenig verliebt war.

Erst jedoch wollte ich die Mutter Jesu erforschen. Ich fand heraus, wann unter der Woche die Kirche geöffnet war, denn es war nicht zu jeder Zeit erlaubt, das Gotteshaus jenseits der Messfeiern zu betreten. Abends und nachts wurde das Tor zugesperrt. Aber nachmittags knieten einige alte Frauen in den Bänken und murmelten ihre Gebete. Meine Eltern wunderten sich zwar ob meiner entflammten Frömmigkeit als heranreifende Jugendliche, aber sie dachten sicher, besser eine religiöse als eine herumziehende Tochter. Um unbemerkt und ohne Aufsehen in die Kirche zu gelangen, musste ich mich zunächst in die Materie einarbeiten und die Messen besuchen. Schon stand ich auf der Klippe, den Zeitaufwand gegen die Befriedigung meiner Neugier aufzurechnen. Doch letztere verfügte über ein älteres Recht. Am Montag, so fand ich heraus, war nachmittags die Kirche leer.

Leise betrat ich das alte Gotteshaus. Lauschte auf Geräusche in meiner Nähe. Das Knacken der Heizung. Das Summen einer Fliege. Draußen die Autos. Aus der Abstellkammer neben der Orgeltreppe nahm ich die Leiter und stellte sie neben der lebensgroßen Heiligenfigur ab. Erst wollte ich ihr Gesicht mit heißem Seifenwasser waschen, das ich in einer Thermosflasche mitgebracht hatte. Ihr Gesicht veränderte sich nicht. Doch es war der Anfang. Bald schon rückte ich der Figur zunächst mit einem Stahlschrubber zu Leibe. Da sich nichts verändert hatte, aber immer noch beseelt von meinem Wunsch war, ein wirklicheres Antlitz zu sehen zu bekommen, eignete ich mir im Internet Kenntnisse der Holzbearbeitung an. Ich fertigte Zeichnungen von Gesichtsausdrücken an, die ich mir von Fotos abschauten und hatte bald ein Modell gefunden, das ich fast blind nachzeichnen konnte. Im Wald fand ich einen abgelagerten Holzklotz, an dem ich üben konnte. Ich wusste zwar, dass die heilige Maria aus einem viel härteren Holz geschnitzt war, aber ich schärfte meine Schnitzmesser, meine Flacheisen und mein Geißfußmesser, dass ich vor Jahren von den Eltern zu Weihnachten bekommen hatte.

Alle paar Wochen nahm ich an der Figur kleine Veränderungen vor. Bis an einem Marienfest der Pfarrer nach der Messe verkündete, dass am Gesicht der Gottesmutter manipuliert worden sei. Ich tat ganz verblüfft, saß ich doch in der ersten Reihe. Die Gläubigen kamen nach vorne, um die Veränderungen in Augenschein zu nehmen. Es wurde so heftig darüber diskutiert, dass der Pfarrer die Moderation übernehmen musste.
„Wer hat eine Beobachtung gemacht?“, fragte er. „Dass muss doch ein Kirchgänger gewesen sein. Andere Menschen interessieren sich doch kaum für das Aussehen unserer Kirchenausstattung.“
Alle blickten sich an, aber niemand konnte einen Hinweis geben. Man einigte sich, dass ein Hausmeisterlehrling gewesen sein könnte. Zwar war ich noch einmal davongekommen, aber mein Projekt musste ich beenden, was mich sehr ärgerte. Denn das Gesicht sah noch immer entrückt aus.

Als ich mehrere Jahre später kurz nach meinem Ausbildungsbeginn mein Heimatdorf verlassen hatte, schlug ich noch einmal zu. Im Spätherbst, es war bereits dunkel, übersprühte ich den heiligen Georg mit dunkelblauer Graffitifarbe. Die Dose hatte ich in der Stadt gekauft, wo niemand nach meinem Ausweis gefragt hatte. Nun war ein für allemal Schluss mit der überhöhten, ja übermenschlichen Kraft des kämpfenden St. Georg. Jetzt wusste ich, dass auch er ein Schwächling war wie alle anderen, die Gläubigen und die Unfrommen. Dass sich die Künstler der frömmlerischen Werke für die Menschlichkeit der Heiligen schämten. Dass es da gar nichts gab, das sich außerhalb der kriechenden und vor Angst heulenden Menschen bewegte. Natürlich ging ich noch immer in meine Dorfkirche, wenn ich zu Besuch war. Das Georgsbild war verschwunden. Gebetet habe ich zwar noch, jedoch nicht mehr zu Gott. Aber Kirchhöfe habe ich schon immer gemocht.

 

 

30. November 2024: Duft nach Mirabell

Lebkuchenrundungen

ausgebreitet auf der

bestirnten Theke

 

das Knistern des Ofens

der Wüstenwind verströmt

und einen Duft nach Mirabell

 

neben mir der bäuchige

Herr Ruppel spricht ins Nichts

mit einem Stecker im Ohr

 

verspricht der Kollegin

zwanzig Leckereien

zum Jahrestag

 

über der gestapelten Hüfte

in der Reihe vor mir

der sauertöpfische Taillenteig

 

Nikolaia visavis bleckt

ihre blendenden Zähne

unterm blaugrünen Turban

 

der Leopardenkaftan

schmeichelt ihren

leckeren Ellipsen

 

ihre Fesseln

von einem Kometen

umschweift

 

hinter mir fahle Lippen

die wie Fliegen

auf Fingernägel fielen

 

allenthalben klatscht es

auf Beine Backen und

Backwaren

 

nur das nieselnde Knacken

des Ofens liegt mir in Ohr und

Nase der Duft nach Mirabell

 

10. November 2024: Sturmbrausen

Susanne und André trafen sich vor dem Café Nähkästchen und reichten sich etwas verlegen die Hand, bevor sie sich in der Gaststube einen freien Tisch suchten. Nach erstem Zögern gerieten sie bei ihrem ersten Date in einen lockeren Plauderton, indem sie zunächst ihre bisherigen Chatnachrichten Revue passieren ließen.

André musste seine Vorstellung, die er von Susanne im Lauf der letzten Wochen entwickelt hatte, in Windeseile mit der Wirklichkeit in Übereinstimmung bringen. Erst einmal abwarten, wohin uns die Gespräche führen werden, dachte er. Er fand ihr Gesicht deutlich unauffälliger, als er auf Bildern, gerade auch seinen inneren, wahrgenommen hatte. Andererseits schmiegte sich ihr blaues Kleid um ihre etwas üppige Figur, wie er mit Wohlgefallen bemerkte. Er fand Susanne etwas nervös, denn sie sprach eine Spur zu schnell; ein gutes Zeichen, urteilte André.
Susanne konnte interessant erzählen. Offenbar wusste sie gut einzuschätzen, was ein Gesprächspartner hörenswert fand. Sie verriet Empathie in ihren Äußerungen, war um ein Gleichgewicht der Gesprächsanteile bemüht und konnte aufmerksam zuhören. Insofern keimten bei André gewisse Hoffnungen auf. Er hatte das untrügliche Gefühl, dass er mit seinen eigenen Darstellungen und seiner Erscheinung auch Susanne gefiel.

Im Lauf der Unterhaltung weihte Susanne ihn in ihre Vorstellungen ein. Sie war überzeugt davon, dass es Spiegelwelten gebe, in der Form, dass das soeben Erlebte auf andere Menschen übertragen werde. Diese Spiegelräume, so war sie sicher, befänden sich immer hinter dem Rücken dessen, der aufgrund einer besonderen Erfahrung soeben eine emotionale Reaktion entwickelt habe.

Deine Theorie von den Spiegelwelten kann ich ja noch halbwegs nachvollziehen, aber weshalb sie sich hinter dem Rücken befinden sollen, leuchtet mir nicht ein“, meinte André verwundert.

Ganz einfach, weil die Menschen, die uns von vorne sehen, uns durch eine oberflächliche Brille betrachten. Meistens geht ihnen die Wahrnehmung der Befindlichkeit und damit die Wirkung und die Aura verloren.“

Meinst du wirklich?“

Ja, weil wir gut darin sind, unsere wahren Gefühle zu verbergen.“

Aber es erklärt nicht, weshalb die Spiegelung nicht woanders stattfinden kann.“

Weil wir mit unserem Handeln und Reagieren Einfluss auf unsere unmittelbare Umgebung nehmen. Von hinten betrachtet wird unsere Ausstrahlung abstrahiert. Besser gesagt, die Körpersprache verrät mehr über uns als die Mimik und die Sprache.“

André steckte bereits inmitten ihrer Ausführungen, die ihn zunehmend faszinierten.

Die meisten, erwähnte Susanne, denen sie davon erzählt hatte, hielten sie für leicht verrückt. Daher habe sie im Lauf der Zeit auf die Erwähnung ihrer Vorstellung verzichtet. Das Problem daran sei außerdem, dass sie sich manchmal unvermittelt umdrehe und ihre rückwärtige Umgebung anvisiere. Nicht nur, dass sie hierdurch manch verwundertes Kopfschütteln oder die Frage nach einem Rückenleiden und sogar einem Verfolgungsempfinden ernte, sondern ihre seltsame Eigenart führe auch zu Verzögerungen in ihrem Alltag. Ihre Spiegelwelten, so ergänzte sie, seien häufiger Inhalt ihrer Gedanken.
André hörte sich
erstaunt ihre Erläuterungen an. Er spürte eine seltsame Drehbewegung im Kopf und einen Schwindel seiner Empfindungen, der sich allmählich verstärkte.

 

 

15. Oktober 2024: Der Himmel zittert

Früh am Morgen
wenn die Dämmerung
noch hinterm Berg hält

reißt das Dachfenster
die Klappe auf
um neues Grauen zu verkünden
sieh der Himmel zittert fiebrig

oh da ein Pfosten droht
vom Sturm schon umzufallen
dort wo jener
schonungslose Pastor wohnt

pass auf
die schwarzen Wolken harren längst
in deinem Schrank

ach wenn du ihn gleich öffnest
hängen ausgebeinte Schwaden
an der Lampe träufeln auf dein Lager

Klagen folgen Klagen
einem Wald
von fallgebeilten Stämmen gleich


da endlich Dämmerlicht
bring deine Seidenkleider mit
umwinde mich mit
Vibrationen
deiner segensreichen Zeit

da endlich Dämmerlicht

bring deine Seidenkleider mit
umwinde mich mit good vibrations
einer segensreichen Zeit

27. September 2024: Zwischen Deckeln

Der Worte Widerhall im Säulenraum
bebildert in Minuskeln stockgedruckt
wenngleich der Fingerzeig des Aufgewölkten
in die Mahnung deutet

Halleluja rufen sich die Gegner zu
jetzt wird sich abgekanzelt Horn um Horn
und Huf um Huf mit blanken Brüsten
bis das Schiff auf Grund geht

zwischen Deckeln klappen Jahre auf
ein junges Leben unter schiefen Dächern
hinter Stadtgemäuer zwischen Türmen
unter jener Burg ein Leben in Bezügen

unterstädtisch ästeln Katakomben
winkeln Gassen buckeln Pflaster
in das Oberdorf am schwarzen Brunnen
bis zur mittelalterlichen Ausschau

unten zieht der Fluss geschwungne Bahnen
inselt entelt ebnet Blicke bis zur übernächsten Brücke
bis in die verschachtelten Verblassungen
im tanzgezierten Lautentraum

schließ ich das schwere Buch
und geb es schweigend
weiter.

 

 

6. September 2024: Glasperlenspiel

ein Zusammentreffen
zweier Hände einer Gasflamme
vieler Glasstäbe seiner Blicke
für die austarierte Form
das dunkle Muster
und das Drehen seines Stäbchens
auf die kleine Scheibe
setzt er mit dem Glasstab Pünktchen
in verschiedenen Farben

sie wachsen und runden sich
Verschmelzung miteinander
wie gegenläufig
welche Farben harmonieren
wie viel Klarheit wünscht die Perle
während die Scheibe schmelzend blüht
gleich dem begonnenem Leben
das sich aus Metarmophosen zusammensetzt
die eine aus der anderen erwachsen
ineinandergreifen
und sich runden

wenn er seine Flamme
auf die Seiten richtet
plättet sich die igelige Außenfront
wird kräftiger
wie das Leben denkst du
er spricht von der Olive
reifer satter ausgeglichener
doch auch empfindlich
auf Behutsamkeiten angewiesen

erst recht wenn diese Flamme
die das Schicksal spielt
losgelassen sich verausgabt
kurz nur wie ein formendes Ereignis
ein Erlebnis eine Wendung
damit die Öffnung in Mitte
sich erweitert
der freudenspendenden Perle
wie das Leben das dem nächsten
hilfreich schon beiseite steht

 

 

24. August 2024:  Sonnenspiel

Jedes Wort und jede Geste fußgenotet
deine Blicke überufert dicht und
deutlich scheint dein Lächeln seit dem
ersten Abend an der Wohnungstüre

junge Wochen als wir uns an Finger
spitzen hielten auf dem alten Pflaster
und in willkürlicher Zeitversetzung
durch die Fugen liefen Feuersalamander

die im Sonnenspiel die Stege schmälerten
wir liefen eine Zeitlang neben uns wie
auf der Suche nach dem Nest der Kindheit
und der Blumenwiese unserer Jugend

nach vielen Sommerabenden im kleinen
Zelt und sturmgesandten Regengüssen
ruhten wir im Schatten der Klematis jedes
Wort von damals ganz genau bis hier.

 

 

15. August 2024: Strickjacke - eine Schreibübung

Das Knistern meiner Strickjacke, wenn ich sie an- oder ausziehe. Ein knisterndes Feuer, ein Aufflackern von brennenden Gedanken, ein Ergreifen und Ergriffensein. Ein Verzehrtsein von einer Sache, eine Hingebung bis in die Fingerspitzen. Eine Sache, die unbedingt in meinem Leben ausprobiert und ausgekostet werden muss, weil sie mich in den Bann zieht. Weil sie größer ist.

Abends streife ich meine Strickjacke im Dunkeln ab, und sie antwortet mir kurzen Aufladungs­blitzen Eine aufblitzende Mahnung, eine Drohung der Eltern oder ein bloßes Ausrufezeichen. Aufzupassen vor Ereignissen oder Folgen, die ich jetzt noch nicht abschätzen kann. Gibt es ein gefährdetes Leben jenseits meiner Leichtgläubigkeit, meines Denkens und meines Seins?

Das Lochmuster. Ich kann eindringen wann immer ich die Kleidung hinter der Jacke erkenne. Dann wandle ich über Grenzen hinweg und sehe die obere Welt von unten und das Darunter als den Zusammenhalt aller mit Allem. Auch im Bösen. Ich kann fliehen, wenn ich meine Finger benutze. Veränderungen schaffe, Taten vollbringe. Das Zaubern eines Lächelns und neuer Hoffnung.

Die Fransen. Das äußere Leben franst an den Rändern aus. Der Zerfall beginnt vom Ende. Nur noch das Ineinanderverdrehtsein hält eine Weile zusammen. Ein gemeisames Projekt oder eine Lebensspanne unter gemeinsamer Flagge. Die Geheimnisse des anderen kennen, aber sie für sich behalten können. An einem Ziel arbeiten, das sonst noch niemand kennt.

Schwarz. Alle Farben zusammen und doch keine einzige mehr. Verbrennung, Vermodern und Verwesung. Vergessen des Alten. Hinter mir lassen. Nicht mehr vermissen. Die Basis für den Aufbruch zu neuen Ufern. Es kann nur bunter werden. Blumen in allen Farben. Die Schwärze und Schwere von gestern enthält bereits die Energie und Wärme für morgen.

 

 

5. August 2024: Aus mit der Monarchie? (szenisch gelesen auf dem Weinfest in Gleisweiler am 04.08.2024)


In Neustadt traf sich vor paar Wochen
der Verein des edlen Weines,
doch brachte ein Entschluss zum Kochen
das ganze Volk, ob großes, kleines

das Königinnenreich beenden,
war kühne Botschaft an die Leut,
man fragt sich bang, wird man ihn wenden,
den Umsturz, gleich, am besten heut?

Der große Traum nun ausgeträumt!
Hörst du die jungen Frauen klagen?
Die goldne Krone abgeräumt!
Wie das? Und Fragen über Fragen.

Das ganze Volk in Aufruhr scheint,
ob Kleid ob Diadem ob Krone,
wie soll die Herrschaft möglich sein,
so ganz und gar, so ohne?

Auch Männer wären gerne König,
selbst wenn sie nur Baron gehießen,
der Griff zum Zepter ist nicht wenig,
noch werden sie der Macht verwiesen.

Doch seht, die Krone ist verstaubt,
man lache weltweit über sie,
so sagen die, denen man … glaubt,
doch ganz gewiss ist das ja nie.

Wer will denn nur Botschafter sein?
Und aller Schmuck verloren?
Gesandte nur des edlen Weins,
nicht mehr zur Königin erkoren?

 

 

31. Juli 2024: Elses Weg (Auszug einer Erzählung über Frauen im Bauernkrieg)

Else von Vinstingen, die vorletzte der Reuerinnen, legte nach einigen Jahren der Fragen, des Grübelns und Zweifelns 1523 ihr Reuerinnengewand ab und kehrte mit Billigung der Meisterin Barbara von Blumeneck dem kleinen Kloster Kanskirchen den Rücken. Ohnehin hatte sie sich in den letzten zehn Jahren als beinahe völlig isoliert lebende Nonne nicht mehr wohlgefühlt. Die Stille und die wenigen Begegnungen hatten sich bleiern über ihre Stimmung gelegt.

Die Bauern der Umgebung, die Barbara und Else ihren Zehnt geliefert hatten, waren mehr und mehr aufgebracht gewesen und hatten sich zunehmend geweigert, von ihren teilweise schlechten Ernten einen kleinen Teil abzugeben.

Wollt ihr uns die Schuld für eure Armut in die Schuhe schieben?“, hatte Barbara gefragt, als einige aufgebrachte Bauern am Monatsende zur Abgabe im Kloster erschienen waren. „Immerhin beten wir für euch und euer Wohlergehen und bieten euch ein sonntägliches Dach über dem Kopf.“

Pah!“, rief der Bauer, „das sonntägliche Dach kostet euch rein gar nichts! Ihr sagt, ihr sorgt euch um unser Wohlergehen! Euer eigenes Wohl ist es, was euch zum Beten antreibt! Ihr seid von uns abhängig! Ab sofort erhaltet ihr statt des verlangten Zehnten, unser trockenes Getreide, fauliges und verwurmtes Obst und abgestoßene, verschimmelte Rüben. Damit ihr wisst, was auch wir auf unseren Tellern liegen haben!“

Else missfielen die Streitigkeiten und zunehmend böse Stimmung, die auch innerhalb der Klostermauern für schlechte Stimmung sorgte.

"Wie soll das weitergehen?", hatte Barbara wie oft mehr zu sich selbst als zu Else gesagt, aber darauf auch keine Antwort gewusst, geschweige denn gemeinsam mit Else eine Antwort gefunden.

Da das Kanskloster seit einigen Jahren nicht mehr ausgebessert wurde und die Dächer allmählich schadhaft geworden waren, weil die Bauern nicht mehr genügend Steuern abgeliefert hatten, um damit die Handwerker bezahlen zu können, verfiel es zusehends. Der Speyerer Bischof Georg wusste zu gut, dass für die Dachdeckerarbeiten und Mauersetzer dieser traurigen Klostergebäude jeder Heller zu schade sei. Das Ende des Klosters warf seine langen Schatten voraus.

Barbara jedoch wollte bis zu ihren letzten Tagen bleiben. Hier fand sie zu ihrem unverbrüchlichen Bund mit Gott. Ein Spital oder ein Hospiz kam für sie nicht in Frage, weil sie befürchtete, dass Gott sie dort nicht mehr erreichen könne. Auch einen Medicus wollte sie nicht aufsuchen, wenn ihre Leiden zunehmen würden, sondern sich ganz der Hand Gottes anvertrauen. Seit über dreißig Jahren lebte sie hier und ein anderer Aufenthaltsort kam für Barbara nicht mehr in Frage. Noch warf der Klostergarten genügend Gemüse, Getreide und Kräuter für eine Person ab. Da an Erhaltungsarbeiten nicht zu denken war, schien ein Wettlauf zwischen Barbara und den Klostergebäuden stattzufinden.

 

 

 

24. Juli 2024: Markt der Möglichkeiten

Auf dem Rathausplatz treffe ich die Erzählerin im einfachen Mittelaltergewand, die sich „Rabenstern“ nennt und im sonstigen Leben Uta heißt. Sie verfügt über einen großen Wissensschatz und rezitiert an diesem Samstag einige Gedichte von Lina Sommer, weil ich mich nach dem ersten vorgetragenen Werk von ihr begeistert zeige. Ich frage sie, ob Uta mittlerweile die Erlaubnis zum Sprechen und Flötespielen auf dem Marktplatz bekommen hat, doch sie verneint. Sie hofft, dass niemand von der Stadtverwaltung kommen wird. Meist stellen sie sich nah an sie hin, sagt sie, damit sie ihr, ohne Aufsehen zu erregen, den Platzverweis erteilen können. Ich biete ihr an, sie bei derartigen Unannehmlichkeiten in Form von Leserbriefen zu unterstützen. Sie erzählt mir vom Leben und dem Grabmal Lina Sommers in Jockgrim, um das sich niemand kümmere. Selbst der Gärtner habe keine Erlaubnis zur Grabpflege. Weil am Wochenende in Jockgrim ein Dorffest stattfinde, werde sie gleich dorthin fahren. Man müsste dem Vergessen Lina Sommers entgegenwirken. Im Internet finde ich neben den lexikalischen Informationen einen Blog über die Dichterin, den ein Neustadter Bürger erstellt betreibt.

Schellengeläut
im Wind wiegen sich
die Friedhofszypressen

 

 

15. Juli 2024: Laube

An einem späten Nachmittag in jener
Geißblattlaube einer lichten Katakombe
die auf einer ziselierten Traumpagode
aufzuschreiten Amselarien uns nah

gardinen Meisen hüpfen auf bemoosten
Zweigen und wir nisten uns zu Fuße eines
buschigen Kastanienbaumes hören auf die
Stimmen in uns die den Gaumen nicht

verlassen ein Orenda du sinnierst auf die
Nocturne wir tauschen Brot und trinken
losen Wein berauscht in dem gefundnen
Codex liegen unbekannte Seiten die wir

kosten eine Azallee blüht rosig wie ein
Seidenmantel wir entheben uns des
Beiwerks lehnen uns an Grenzen die
verwischen Hephaistos schickt uns Leibes

wächter nicht nur Lambitus wir münden
wo wir native speaker unsre Träume lagern
Wechselschatten unter Windmühlflügeln
streben über uns die Äste wie Kometen.

 

 

6. Juli 2024: Aus meinem Weinprogramm

Macht des Weins

Er lockt mich mit dem Füllhorn
seiner Geschmacksvielfalt
meine Sinne zieht er in seinen Bann
und bereit liegen meine Säfte.

Mir zeichnet er die imposante Erzählung
seines Werdens und Wachsens nach,
seines Vergehens und seiner Verwandlung
und ich glaube ihm zunehmend willenlos.

Die Sommersonne fing er sich,
er schlürfte den Erdmineralregen
einen Jahreskreislauf in Gänze verinnerlicht
Zögling und doch Gebieter seines Herrn.

In den Kellern benahm er sich eitel
trieb seinen Erzeuger zur Eile,
gab ihm sein Handeln vor
und blieb der Sieger eines vorgegebenen Spiels.

Nun siegt er erneut, jetzt über mich
bedrängt mich zum Lösen des Korkens
mein schönstes Glas, gehört allein ihm
die Erwartung verschlingt meinen Glücksmoment.

Er zelebriert das süße Versprechen
mitten hinein in die Säure meiner Jahre
er ist der flüsternde Brunnen einer Oase
der mein Leben rettet und verdirbt.

 

 

27. Juni 2024: Ursprüngliche Stelle

Simone steigt an der Haltestelle aus dem Überlandbus. Die Landschaft der Lofoten ist karg. Steinige, grasbewachsene Hügel und höhere Berge bestimmen das weite Land­schaftsbild. Sie steht eine Weile ruhig da. Der Septembertag ist mild und bewölkt, der Pfad verläuft entlang des Bergrückens. Simone setzt die ersten Schritte. Links, am gegen­überliegenden Abhang, fließt ein breiter Wasserfall. Lauschend bleibt sie stehen.
Das Rauschen, wie zeitweise in meinen Ohren! Wirklich das selbe Rauschen? Knisterten und dröhnten meine Ohrgeräusche nicht etwas mehr? Und meine jetzigen? Wie sehr stören sie mich? Manchmal? Zeitweise? – Das Wasserfallrauschen klingt beruhigend, weil man den Ursprung des Geräusches sehen kann. Das Klatschen an die Felswand. Das Spritzen in alle Richtungen. Ich stelle mir das tausendfache Glitzern der Wassertropfen auf Gräsern vor. Glitzern Tropfen ohne direktes Sonnenlicht überhaupt? Ja? Oder nein? Anders? Wie anders? Matter? Muss ich es wissen?

Sie bleibt eine Weile stehen. Wie häufig, wenn das Gedankenkarussell Fahrt aufnimmt.

Meine Gedanken dürfen fallen, sich auflösen, fortschwimmen. Wohin? Ins Meer? Sind sie dann verschwunden? Wer bin ich noch ohne Gedanken? Ganz ohne? Wie viele Gedanken sind gut für mich? Kann man Gedanken zählen? Wohl kaum. Man muss sie anderweitig zu fassen bekommen.

Sie geht weiter. Hört auf die Tritte ihrer Schuhe. Atmet bewusst ein und aus.

Wie schnell oder langsam soll man Luft holen? Atmet man nicht zu zögernd, wenn man es willentlich tut, weil man seinen Atem beruhigen möchte? Dann schmerzt das Luftholen sogar! Besser nicht daran denken.

Der Wind lässt einige Grasbüschel hin- und herschwanken. Hin und her, hin und her. Simone steigt weiter, der Pfad wird etwas steiler. Bald erreicht sie einen kleinen See, den sie spontan einmal ganz umrunden möchte. Sie wandert erst langsam, dann etwas flotter. Nach einer guten Stunde steht sie lächelnd wieder am Ausgangspunkt und geht weiter bis zur Abzweigung über den Djupfjordheia zum Berg Munkebu. Der Anstieg wird steiler, langsam ändert sich das Panorama, die hohen Gipfel werden mehr. Simone bleibt stehen, betrachtet winzige Gräser. Hört den Schrei eines Raubvogels. Genießt das Panorama. Nimmt die Stille wahr. Mehrmals erleichtern Drahtseile das Fortkommen über die glatten Felsen. Auf einer Anhöhe sieht sie den nächsten See. Simone spürt ihren Hunger, setzt sich auf einen größeren Stein und öffnet ihre Proviantdose. Sie wartet erst einmal. So hat es die Therapeutin empfohlen. Den Hunger und die Lust aufs Essen spüren. Die Oberfläche des Brotes und den Glanz der Käsescheiben sehen. Sie atmet tief aus. In den Hunger im Magen. Wie ein Wasserfall ins Tal.

Welches Geräusch wohl mein Atmen in meiner Luftröhre erzeugt? Weshalb hat man eigentlich beim Ausatmen das gleiche nach unten gerichtete Empfinden, wie äußerlich die Luftströme fließen?

Simone spürt das mystische Funkeln eines Geheimnisses. Nach einer ganzen Weile führt sie das Brot zum Mund und spürt dessen Elastizität und die Feuchtigkeit der Käseschei­ben zwischen Zunge und Gaumen. Eine Langsamkeit, in der man dennoch das Wachsen von Gräsern sehen kann, gesellt sich zu ihr. Wie eine neue Freundin, die ganz anders ist als frühere Freundinnen. Das Wasser aus der Flasche schmeckt ihr. Selten zuvor hat sie den Geschmack von Wasser überhaupt wahrgenommen.

Der lange Anstieg ist anstrengend. Mehrfach glaubt Simone bald den höchsten Punkt erreicht zu haben, aber dann erscheint wie hinter einem sich langsam wegziehenden Vorhang eine weitere Kuppe. Die Zahl der Vorhänge hat sie vergessen, als sie den Gipfel des Djupfjordheia erreicht. Er gibt den Blick in den Djupfjord frei. Gigantisch! So weit! So tief! So blau! Simone kommen die Tränen. Es mag auch am Wind liegen, der ihre Jacke flattern lässt.

Der Wind ist ein Teil von mir. Der Wind, das Gestein, die Berge, der Blick in den Fjord. Und ich stehe hier und bin ein Teil von allem.

Bei dem leichten Abstieg muss Simone manchmal durch Schnee laufen. Konzentriert setzt sie ihre Schritte. Die Kulisse ändert sich, die Berge wandern mit ihr oder ziehen in andere Richtungen weiter. Als hätten sie ein Eigenleben. Als wollten sie einen Blick auf Simone werfen, bevor sie wieder an ihre ursprüngliche Stelle zurückkehrten.

Wo ist meine ursprüngliche Stelle?

Das Wort „ursprünglich“ gefällt ihr. Sie schreibt es in die Notiz-App ihres Smartphones. Bald darauf taucht das Ziel ihrer Wanderung auf, das Felsplateau, der See und die kleine Munkebu-Hütte.

Erhebend, wenn man etwas zum ersten Mal sieht oder spürt. Erstmalig, wann ist das in meinem früheren Leben gewesen? Wann habe ich da zum letzten Mal gestaunt?

Die Hütte liegt auf einem kleinen Plateau an einem See und ist umringt von hohen Bergen mit geriffelten, faltigen Felsen.

Faltig, das bedeutet … uralt. Diese Berge sind Millionen Jahre alt. Unbegreiflich. Ehrfurcht erweckend. Ich bin so jung und winzig und darf ein Teil der Welt sein!

Nach der Ankunft in der Hütte verspürt Simone die Erschöpfung, die Wärme einer Decke, sie nimmt das Knistern der Holzdielen und den Duft der Hütte wahr, genießt die Aussicht auf die Berge, auf den Tennessee und den zugefrorenen Kroksee. Morgen möchte sie den Munkebu erwandern. Die Besteigung des noch höheren Hermannsdalstinden ist jedoch nur sehr Geübten vorbehalten. Die ersten Sterne leuchten. Am Himmel meint sie ein grünliches Polarlicht zu sehen.

 

 

20. Juni 2024: Haibun "Sicherung meiner Existenz"

Mein Lyrikvortrag in Fränkisch über meinen Vater, der vor zehn Jahren verstorben ist. Diesen weichen Dialekt mochte er nicht, nur sein heimatliches Prümer Platt ließ er gelten. Meine Mundart habe ich mir aus dem Gedächtnis beigebracht, als ich nicht mehr in Franken wohnte. Das Gedicht über Verletzung und Distanz, die Zweifel und die Liebe, unsichtbar wie die Tempelhofer Luftbrücke.

untere Schublade
die Neuentdeckung
uralter Schätze

Die Zuhörenden verstehen den Inhalt des Gedichtes kaum. Ihre fragenden Blicke veranlassen mich zu Erklärungen. Eine Frau verortet das Gedicht in Berlin während des Krieges. Ich hätte einfach „ja“ sagen sollen. Die Beschämung, die allen Verhöhnten zueigen ist. Das Kind war wieder unachtsam.

volles Saftglas
beim Stuhlkippeln
steigt die Spannung

 

(Das Haibun wurde für die Zeitschrift "Sommergras" der Deutschen Haikugesellschaft ausgewählt)

 

10. Juni 2024: Carmel (Romanauszug Monika Mann)

Der Umzug Anfang April steht an. Carmel erinnert mich an Südfrankreich, es ist nicht annähernd so hektisch wie Los Angeles oder San Francisco. Hier könnte ich mich eines Tages wohlfühlen. Gret und Bibi sind sehr hilfreich und zuvorkommend. Und Frido ist ein ganz Süßer. Da die kleine Familie recht beschäftigt ist, will ich sie nicht weiter belasten und gehe entweder spazieren oder ziehe mich wieder zurück in meinen mir zugewiesenen Raum, das spätere Kinderzimmer, das noch spartanisch möbliert ist. Die Spaziergänge am Strand und die salzhaltige Luft tun mir gut. Mein Appetit entwickelt sich allmählich wieder. Gret mag ich sehr. Michael hingegen zeigt seine ausgeprägte Wechsellaune, so dass ich mich abwartend verhalte, wenig mit ihm spreche und ihm auch sonst aus dem Weg gehe. Dennoch möchte er Gret alleine ums ich haben, wenn er nach den Proben oder seinem Übungsspielen Feierabend hat. Mit Gret und Frido gehe ich tagsüber öfter an den Strand, manchmal sind auch ihre Freundinnen dabei, und wir spielen mit dem Kleinen und anderen gleichaltrigen Kindern im Sand oder fangen uns gegenseitig. Nur hin und wieder bringt mich der Anblick von Frido aus meinem seelischen Gleichgewicht. Wenn er weint oder schreit, wenn er an der Brust liegt. Mittlerweile kann er schon krabbeln und legt auf dem trockenen Sand ein erstaunliches Tempo vor. Die ganze Abwechslung und das ungezwungene Leben, das ich hier führen kann, tun mir gut. Ich genieße die Felsenküste, die Landschaft und die alten Bäume. Doch auch die kleinen und manchmal windschiefen Häuser des Dorfes berühren mein Wohlempfinden. Tatsächlich spüre ich gelegentlich Anflüge von Glück.

Die Schiffshavarie liegt nun über ein halbes Jahr zurück. Auch Jenő hätte gewollt, dass ich mich wieder erhole. Leider habe ich nicht einmal mehr ein Bild von ihm. Ich darf gar nicht daran denken, ihn mir aus Gründen der Erinnerung genau vorzustellen, sonst erkenne ich vor überquellenden Augen auch in mein eigenes Inneres nicht mehr. Die Wochen vergehen.

In Carmel habe ich mir ein Zimmer und ein Piano gemietet, denn ich habe wieder Lust bekommen, Klavier zu spielen. Nur ein paar Etüden. Wenn ich meine Finger über die Tasten gleiten lasse, blühen zaghaft meine Vorstellungen und Träume auf. Allerdings breche ich meine Übungen nach wenigen Takten ab, denn mein alsbald wieder keimendes Empfinden ist der schwarze, eiskalte, abgrundtiefe Horror, den ich langsam erst auszuhalten lerne. Johann Sebastian Bachs Klavierstücke in Dur bereiten mir am meisten Freunde. Menuette und Präludien. Sandkornweise begegnen mir Erfolgserlebnisse, weil die Finger wieder geschmeidiger, die Stücke wieder flüssiger werden. Das Notenmaterial muss ich mir erst wieder besorgen. Doch es sollten auch neue Stücke darunter sein, solche, die nicht mit Erinnerungen verbunden sind. Im Musikgeschäft gebe ich meine Bestellungen auf. Es sind die ersten Schritte in mein Leben, ohne zu wissen, wie es sich für mich gestalten wird.

 

 

31. Mai 2024: Frühstück

Mit meinen Gedanken
moussierte der Milchkaffee
in unseren gewellten Bechern
voll glühender Takte


an Tapetenschweifungen entlang
berankten sich ältere Verliebte
unter dem Schirm der Musik

ich blätterte
in den Familiendramen
zwischen den Fingern
doch sie hatten sich
leichthin verändert
hinter den Launen der Wetter

das lachende Glück
inmitten gemeinsamer Arbeit
das Leben spielt manchmal
verworrene Lieder

am Fenster
perlten die Reflexe des Winters
beim Frühstück
mit synchronen Spiegelungen

 

17. Mai 2024: aus meinem Roman über Monika Mann

New York

Zu Jahresbegin 1942 schreibe ich einen Brief an Molly Shenstone in New York. Meine Zeit am Pazifik sei bedauerlicherweise bald abgelaufen. Ob sie mir für die nächsten Wochen ein Zimmer besorgen könne, damit ich mir eine eigene Wohnung suchen könne, frage ich sie. Im Frühjahr reise ich zum ersten Mal nach New York, eineinhalb Jahre, nachdem ich von Schottland aus mit dem Schiff dort angekommen war.

Mein vorübergehendes, kleines Zimmer im siebten Stock eines Vierzig-Parteien-Hauses in Brooklyn erlaubt nach vorne einen Ausblick auf die Straße und ein Häusermeer und nach hinten auf Bahngleise und ein weitläufiges Industriegelände. Dennoch habe ich den Eindruck, dass ich mich in der neuen Umgebung ein klein wenig erhole. Vorsichtig blicke ich mich in der Haus-Nachbarschaft um. Die Klingelschilder verraten einen hohen Flüchtlingsanteil: aus Südamerika und aus Osteuropa scheinen viele Hausbewohner zu stammen. Ich beginne, ausgedehnte Spaziergänge in den naheliegenden Prospect Park, wo ich auf andere Gedanken komme, wenn ich den Menschen bei ihren Tätigkeiten zusehe. Die Zeitungen studiere ich nach der Inspizierung von Wohnungsanzeigen.

Nach ein paar Monaten werde ich jedoch dank der Vermittlung von Klaus, der auch in Brooklyn wohnt, fündig, und kann den Eltern die erfreuliche Nachricht senden. Ich treffe mich einmal kurz mit ihm, aber ein Gespräch kommt kaum zugange. Er ist mit der Auflösung seiner Zeitschrift „Decision“ beschäftigt. Mein Bruder sieht mich kaum an, seine Blicke irren umher, wenn er hastig mit mir spricht, was mir die Gewissheit gibt, dass es ihm nicht gut geht. Sicher hat es nichts mit mir zu tun. Er nuschelt fast, als hätte er Angst, jemand Fremder könne ihm zuhören und ihn denunzieren. Sein Lebenswerk sieht er in größter Gefahr. Er weiß nicht, wie es mit ihm weitergehen soll. Ich glaube, er will verhindern, dass ich seine Verzweiflung sehe. Erst recht, weil ich momentan in einer ähnlichen Situation bin, wobei es mir dabei verhältnismäßig gut geht. Obwohl ich noch nirgends zuhause bin, hier noch nicht angekommen, am Pazifik nur für ein paar Monate in Carmel heimisch geworden, und mich noch immer nicht in der Lage sehe, mich länger als fünfzehn Minuten zu konzentrieren. Ich glaube, mein Zustand nach dem Unglück war ihm nicht bewusst. Doch war es gut, die Verbindung mit Klaus angerührt zu haben. Wir umarmen uns beim Abschied und ich wünsche ihm viel Erfolg bei der Army in Europa. In der Hand die Adresse einer neuen Wohnung in der Nähe des Central Parks.

 

7. Mai 2024: Lilien

Raue Sandsteinstufen hinter den beiden Thujen. Die schwere Bronzetüre ist angelehnt.

Im Vorraum duftet es nach der feuchten Kühle des Übergangs von dieser Welt in eine andere. Bunt bedruckte Hefte in Metallregalen, verbogen vom Zugwind und vom Blättern der Menschen auf der Suche nach einer Ablenkung.

Hinter der Rauchglastüre mit dem quadratischen Griff aus goldgelbem Glas öffnet sich der Hall nach vorne bis an die hochgezogenen schmalen Fenster, zwischen denen Heiligenfiguren stehen.

Noch ist das Licht hellblau, eine Schutzwolke legt sich über mich. Die Lilien auf dem Sandsteintisch leuchten so weiß, dass ich sie berühren muss. Ich fühle die zarte, lederartige Oberfläche der Blütenblätter, deren sanfte Rillen und den weichen Rand. Wie ein Schmetterling, strahlend und ein wenig durchscheinend, schwingt das Blütenblatt zwischen meinen Fingern, löst sich und schwebt an mir vorbei. Ein Fenster ist gekippt.

Ein paar Meter neben mir das Geräusch eines auf den Boden fallenden Tuchs, doch ich schrecke nicht zurück, denn ich kenne diesen Laut. Fast immer begrüßt er mich hier. Auch in anderen vertrauten Räumen. Ich weiß, dass ich nicht alleine bin, obwohl niemand sonst zu sehen ist. Ein Luftzug streift mein Gesicht.

Von außen zieht eine leise Geigenmelodie an mein Ohr. Ich spüre den Klängen nach. Wie entstanden sie? Welche Form haben sie? Wohin schweben sie? Mit welchen anderen Geräu­schen werden sie sich vermischen? Wo werden sie sich in ihre Bestandteile auflösen?

Vor mir erscheinen die Töne wie Stare, die über den Himmel ziehen. Sie werden zum Schwarm, der eine Figur bildet, ein wehender Umhang aus mehreren Lagen. Eine Gestalt, die den Arm in Richtung der Empore hebt.

Auf eine der Orgelpfeifen strahlt ein Lichtfleck der Nachmittagssonne. Er bewegt sich. Von der langen Metallröhre abwärts und weiter über die Balustrade den Gang entlang bis vor meine Füße. Das Licht wandert für einen Moment in mein Gesicht. Der hellblaue Schein der Dorfkirche mischt sich mit einer Haselnusstönung. Das Weiß der Lilien ist in Zartgelb gewandelt, ihre Staubblätter stehen voller Kraft aufrecht und empfangsbereit. Ich sehe die Sicherheit des Seins in diesem Augenblick. Als die Geigenmelodie wieder ansteigt, spüre ich eine warme Hand auf meiner Schulter und höre leises Atmen. Es kam durch ein Tor von der anderen Seite des Lebens. Ich bin die Lilie.

 

 

21. April 2024: Haibun "FÜR DEN MOMENT"

(veröffentlicht in der Mitgliederzeitschrift SOMMERGRAS Nr. 143 der Deutschen Haiku Gesellschaft)

Er hat feste Rituale. Mit der gleichen Sorgfalt rollt er seine Futonmatte zusammen, wie er die Musik für die Autofahrt auswählt.

Sprühflasche
die Liebe zu seinen
Ahornpflänzchen

Ein hübscher, stiller Mann mittleren Alters, durchdrungen von seiner einfachen Arbeit. Die Tage verlaufen ähnlich, doch die Details machen sie zu Kostbarkeiten. Kurze Begegnungen. Zuneigung und Ablehnung, wie süße und scharfe Bonbons. Abends krault er sich lächelnd an den Ohren.

Kreuze und Kreise
wer gewinnt das Spiel
mit einer Unbekannten?

Alter CD-Laden. Die Überfülle bis zur Decke. Die Freundin des jungen Kollegen gibt ihm einen Wangenkuss. Und verlässt ihren Freund.

Badeanstalt
im warmen Strudel
der Leichtigkeit

Der Obdachlose übt im Park Chi Gong. Man kennt sich und nickt sich zu. Ein kleiner Junge winkt zum Abschied. Jeden Tag ein Baumfoto in Schwarzweiß.

Sandwich
für das abgekantete Leben
eine fester Hülle

Die Substandart-Wohnung wirkt wie eine Idylle. Das Pflanzenlicht taucht den Hof in Violett. Abendliche Radfahrten zum Waschsalon und in die Bar. Auch Samstagsrituale erhalten ihre Zuneigung. Die Nichte übernachtet auf der Futonmatte. Ihre Mutter bittet darum, den Vater im Heim zu besuchen.

Kopfschütteln
kein Wort zu viel
über das Unbänderliche

Ein ruhiger Alltag, wie der Sprühnebel, der seine Ahornpflänzchen umhüllt.

Herbstregen
wie viele Augenblicke
hat ein Tag?

 

 

13. April 2024: Essay über die politische Rechte der Gegenwart

1. Gesellschaftliche Betrachtung

Das Aufkommen rechtspopulistischer Meinungen und Strömungen ist kein Phänomen unserer Tage. Ich erinnere mich an meine Studien- und Arbeitszeiten, in denen die NPD-Nachfolgepartei, die „Republikaner“, stark wurde, vermehrt Springerstiefel auf den Straßen auftauchten und in denen über Spätaussiedler aus Russland, die angeblich unsere Sozialsysteme plündern,verächtliche Meinungen ausgetauscht wurden.

Allgemein betrachtet ist die politische Rechte, wie auch linke Strömungen und Bestrebungen, einTeil des politischen Spektrums. Beiden Ausrichtungen liegen philosophische und soziologische Annahmen zugrunde, mit der sie sich die pluralistische Gesellschaft anhand eingängiger Leitsätze zu erklären und in ihrem Sinne zu verändern suchen. Doch hier soll es aus aktuellen Gründen um die politische Rechte gehen. Anstelle von Weltoffenheit treten Wünsche und Klischees, die sich zu festen Überzeugungen verhärtet und das Weltbild der politischen Rechten verschlossen haben.

Rechtsgerichtete Strömungen reichen von bürgerlich-konservativen über rechtspopulistische Positionen bis hin zu verschiedenen Erscheinungsformen des antidemokratischen Rechtsextremismus, die ihre äußersten Extreme in Bewegungen wie Faschismus oder Nationalsozialismus finden. Politische Rechte bedeutet im gegenwärtigen Sprachgebrauch extremere Positionen als konservativ-bürgerliche Einstellungen. (Wikipedia/Politische Rechte)

Rechte Gesinnung bedeutet allgemein, von einer Ungleichheit der Menschen auszugehen und infolgedessen gesellschaftliche Hierarchien zu befürworten. Diese Ungleichheit wird als gegeben, natürlich und wünschenswert betrachtet. Zwischen der klassischen Rechten, die die Ungleichheit durch Erbfolge und Familientradition gerechtfertigt sieht, und der liberalen Rechten, die Ungleichheit als Ergebnis des fairen Wettbewerbs für gerechtfertigt hält, ist zu unterscheiden. (Wikipedia/Politische Rechte)

Vordemokratische Gesellschaftsformen, wie das Kaiserreich,basierten auf tendenziell unumstößlichen Hierarchien. Nach der allmählichen Entwicklung zur Demokratiein der Folge der beiden Weltkriegetrat bei den politisch Rechten die oben genannten Strömungen an die Stelle der unbedingten Hierarchiesysteme.Heute beobachtet man häufiger ein Unterschiedsbestreben aufgrund eigener Arbeit. Dass Wettbewerb an sich fair ist, müsste eigentlich in jedem Einzelfall überprüft und abgewogen werden und kann als Ganzes betrachtet nur als Behauptung bezeichnet werden.

Dabei gehen wirtschaftliche und gesellschaftliche Unterordnungsideale Hand in Hand, was man an der Diskussion um das Bürgergeld erkennen kann. Häufig drehen sich Diskussionen um Privilegien oder um die Verteilung staatlicher Zuwendungen in der Gesellschaft. Ansprüche gegenüber dem Staat sollen in den Augen der Rechten nicht unbedingt jedem und jeder gewährt werden, sondern werden mit der Arbeits- und sogar der nach Rechts gerichteten Annäherungsbereitschaft der Menschen verknüpft.

Die politische Rechte schließt emanzipatorische, also angleichende und chancengerechte Gesellschaftsveränderungen aus. Gleichgültig, in welche Bereiche man blickt, seien es eine Überwindung des traditionellen Rollenverständnisses von Männern und Frauen, gleiche Bezahlung für Frauen, mehr Rechte und Rücksichtnahme für Menschen mit Behinderungen, Sozialleistungen für Geflüchtete und für Bürger/innen mit sehr niedrigem Einkommen oder die Anerkennung aller Bürgerrechte für Menschen mit nicht-weißer Hautfarbe:Die Bedeutung äußerlicher oder oberflächlicher Unterschiede zur eigenen Person wird in extremer Weise überbewertet und in den absoluten Vordergrund gestellt. Anders wahrgenommene Personen werden demzufolge pauschal abqualifiziert.

2. Soziologische Einschätzung

Die bereits genannte Denkvorstellung der Monokausalität zwischen Erfolg(-sanspruch) und persönlichen Eigenschaften wie Fleiß oder Klugheit, bzw. familiärer Herkunft hat etwas mit dem alten Spruch, Jeder ist seines Glückes Schmied zu tun. Diese Redewendung aus der römischen Antike hat es in sich. Verweist sie einerseits auf die positive Selbstwirksamkeit des eigenen Handelns, negiert sie jedoch in der Unbedingtheit ihrer Aussage, dass es Schicksalsschläge, Krankheiten und Kriege gibt, in denen menschliches Handeln nur noch geringfügig zum Vorteil erfolgen kann. Nur, wer eine günstige Ausgangsbasis und ebensolche wirtschaftlichen Rahmenbedingungen sowie wohlgesonnene Mitarbeitende vorfindet, hat die Chance, sich diese Redewendung zu eigen zu machen. Politische Rechte, die sich jedoch in einer Krisensituation befinden, sind nur schwer in der Lage, diese umsichtig einzuordnen, sondern suchen die Schuldigen für die eigene Misere in der Außenwelt. Problematisch in meinen Augen stellt sich bei der Redewendung das Possessivpronomen dar. Offenbar zählt nur das eigene Glück.

Der Mensch wird nicht als Teil einer pluralistischen Gesellschaft erlebt, mit der man im Austausch steht und von der man gegenseitig profitiert, sondern man steht ihr gegenüber und befindet sich in einem andauernden Wettstreit mit den anderen, was sich in einer misstrauischen und feindseligen Haltung anderen Menschen gegenüber ausdrückt.

Daher kann festgestellt werden, dass eine ausgeprägte Gruppenbildung, die sich dadurch definiert, dass andersdenkende, -fühlende oder -aussehende Menschen explizit ausgeschlossen werden sollen, als demokratiefeindlich gesehen werden muss, da von Toleranz nicht mehr gesprochen werden kann. Erst recht teilen politische Rechte eine wenig ausgeprägte Fähigkeit zu Fürsorge, Empathie und Mitgefühl, es sei denn, es handelt sich um Mitglieder der eigenen Gruppe (bzw. Blase). Demokratie jedoch schließt u.a. die politische Gleichheit der Bürger ein.

Nicht zu vernachlässigen ist eine der zugrunde liegendenUrsachen, die „Wutmänner“. Aus einem SWR-Report vom 04.04.2024 geht hervor: „Die gegenwärtige Männerwelt ist dreigeteilt: Auf der einen Seite Männer, die bewusst Gleichberechtigung als gesellschaftlichen Fortschritt erkennen und sich engagiert als Partner, engagiert in der Haus- und Familienarbeit einbringen. Daneben das rückwärtsgewandte Drittel der Männer, die zurück wollen in die Geschlechterordnung von früher. Unter denen wächst eine Radikalisierung, die im Begriff ist, auch das mittlere Drittel erfassen zu können, deren Männerbild noch ambivalent und nicht gefestigt ist.“ Das Verhalten der lautstark auf der Straße auftretenden Leute stellt sich als aggressiv und angsteinflößend dar. Menschen, die offenbar nicht wissen, wohin mit ihrem Zorn. Dominante und erniedrigende Verhaltensweisen findenin der heutigen Gesellschaft, in der es an zu erlegenden Beutetieren oder Feinden mangelt, häufig keine sinnvolle Anwendung. Die Feindbilder und Bedrohungsszenarien werden in anderen Bereichen gesucht und gefunden, und es kommen viele Personengruppen in Frage, die das jeweils subjektive Gefühl der Bedrohung ansprechen. Doch sind die Hauptgruppen Frauen und Menschen, die in unbekannten Kulturkreisen sozialisiert wurden oder deren Hautfarbe nicht weiß ist. Ein Drittel der Männer in Deutschland wollen dem Report zufolge eine Gleichberechtigung zwischen Männern und Frauen nicht akzeptieren. 85 Prozent bejahen die Aussage, die Frau sollte ihrem berufstätigen Partner den Rücken freihalten. Dies sind Sichtweisen der Alpha-Männer. Doch es gibt auch die anderen: Manchmal sind Wutmänner sozial zurückgezogen, verfügen über wenig Selbstbewusstsein und tendieren zu verbrecherischen Einzeltaten aus dem Hinterhalt. Man nennt sie Incels (ein amerikanisches Mischwort aus „unfreiwillig“ und „enthaltsam“).

3. Psychologische Aspekte

Zusätzlich muss man immer wieder feststellen, dass die Entrüstung über einen vermeintlichen gesellschaftlichen Mangel in der Regel mehr Beachtung an sich zieht als die Zustimmung zu einem gelungenen Projekt. Dieser Aufmerksamkeitsmagnetismus verstärkt das emotionales Gift, das über die Gesellschaft gestreut wird. Negative Gefühle wie Angst oder Wut ziehen aus menschheitsgeschichtlichen Gründen auch im unmittelbaren Umfeld tiefere belastende Emotionen nach sind, als dies bei positiven Empfindungen der Fall ist. Um emotional aufgeladenen Stimmungen entgegenzutreten, sollte man sich über die Wirkung von Emotionen bewusst sein, um einen inneren Abstand herbeizuführen.

Bürgerinnen und Bürger, die um den Wert der freiheitlich demokratischen Grundordnung, um die Menschenrechte, Toleranz, Vertrauen und Wohlwollen wissen, sollten alles in ihrer Macht Stehende unternehmen, um rechten Tendenzen entgegenzuwirken. Sei es durch die Teilnahme an Aktionen oder Demonstrationen, durch Leserbriefe oder Meinungsbekundung in der Nachbarschaft, im Freundeskreis oder in den sozialen Medien.

Wie entgegnet man rechten Parolen? Sie bestehen meines Erachtens aus drei Teilen. Man spürt regelrecht, wie die mit einer Aussage transportierten Emotionen als erstes beim Empfänger ankommen und ihn oder sie mitziehen und öffnen. An zweiter Stelle steht eine gesellschaftliche Ausgangslage, die angeprangert wird, beispielsweise die Anzahl der Geflüchteten. Diese oft jedoch nicht reale Aussage fällt nach der erfolgten Emotionalisierung auf offene Ohren. Erst der dritte Teil der Äußerung: die Konsequenz aus der Ausgangslage, ist die Kröte, die von der empfangenden Person zu schlucken ist, indem sie zuvor wie beschrieben eingestimmt worden ist. Diese in meinen Augen wesentlichen Kernbestandteile müssen rasch erkannt und sofort hinterfragt bzw. in Frage gestellt werden. Zunächst muss eine Aussage von ihrem Gefühlsumhang befreit werden, damit das Mitschwingen der eigenen Gefühle verhindert wird. Weil es sich bei einer Entgegnung um eine Überraschungsverteidigung handelt, hat man es als Reagierender schwer. Man wird kaum wie aus der Pistole geschossen detailgenaue Antworten mit Quellenangaben parat haben. Allerdings kann nach dem Quellenmaterial des rechten Querulanten gefragt werden. Oder man fragt schrittweise nach der genauen Bedeutung des Gesagten und verwickelt die Person in Widersprüche. In Frage zu stellen sind auch pauschale und vorurteilsbehaftete Aussagen über Personengruppen. Stets sollte mit dem Argument der Menschenrechte, unserer demokratischen Verfassung und Gesetzgebung sowie mit der Plausibilität der Aussagen gekontert werden. Letztendlich darf man sich auch nicht scheuen, klare Grenzen zu setzen. Endlose Diskussionen erfüllen ihren Zweck in der Regel nicht.

4. Fazit

Wenn man bedenkt, dass eine wirklich gelebte Demokratie eigentlich erst seit den siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts, also gerade mal seit fünfzig Jahren besteht, wird man ein Gespür dafür entwickeln, wie fragil die Basis dessen ist, was wir tagtäglich erleben und genießen. Erst 1977 wurde die sexuelle Misshandlung in der Ehe unter Strafe gestellt. Freundschaften, offene Diskussionen, die Versammlungsfreiheit, die Freiheit der eigenen Meinungsäußerung, die Selbstwirksamkeit durch die Umsetzung eigener Ideen, das Herausbilden einer eigenen Haltung jenseits des einseitigen Strebens nach materiellem Besitz und die politische Mitwirkung nach den eigenen Idealen. All dies kann über kurz oder lang auf dem Spiel stehen und sollte im Alltag verteidigt werden. Auch wenn es nicht um die eigenen Rechte und Ansprüche geht, wie bei beifällig geäußerten Meinungen über „die Ausländer“, denen man höflich, aber bestimmt entgegentreten kann.

3. April 2024: Romanauszug: Der zweite Tag auf Capri

Warum schreibt man eigentlich?, fragt Signore Antonio. Um etwas festzuhalten?
Vielleicht ja, um etwas festzuhalten. Aber auch, um ganz tief in eine Sache einzudringen, sie von außen und innen zugleich zu sehen, sie zu spüren und so dem Kern des Lebens näher zu kommen.
Als was siehst du den Kern des Lebens?, fragt er.
Ich denke nach.
Das, was wir selbst als Kern des Lebens sehen. In Wirklichkeit ist es der Kern von uns selbst. Das tiefe Empfinden, das man manchmal sucht. Das man aber nicht finden kann, wenn man achtlos an etwas vorüber geht, aber auch nicht, wenn man achtvoll an etwas vorübergeht. Auch wenn man es fotografiert, findet man das tiefe Empfinden nicht oder nur ganz wenig. Ich meine das dichte Glück, etwas wirklich erlebt zu haben, einen Schatz zu tragen, ein Teil davon zu sein. Die Farbe von Gefühlen zu erkennen.
Antonio hört andächtig zu, erwidert jedoch nichts.
Stattdessen sagt er, lass uns wieder zurück gehen. Ich freue mich, wenn es dir hier gefällt.
Er nimmt meine Hand und drückt sie leicht. Ich drücke seine auch. An der Haustür lässt er sie wieder los. Wir sehen uns nicht an.
Ich würde mich gerne zurückziehen, sage ich und er nickt freundlich.
Morgen zeige ich dir, wo die wichtigsten Geschäfte zu finden sind. Dann bis morgen, sind seine Abschiedsworte.

Ich richte mich in dem kleinen Bad ein. Alles soll so verstaut werden, dass der Blick aus dem Fenster auf die Faraglioni-Felsen nicht gestört wird. Auch nicht durch einen Gegenstand der auf der Ablage der Kommode, die annähernd in der Nähe des Fensters steht, mit einer durchdringenden Farbigkeit die Aufmerksamkeit zu locken gedächte. Das Fenster ist der Weihetempel der Felsen! Erst wenn ich alles erledigt habe und mir mein Ergebnis gefällt, dusche ich mich. Sich einzurichten, ist geborgenheitsfördernd. Das Schränkchen ist bald voll, aber nicht dicht gefüllt, so dass ich alle Döschen und Tuben gut erreichen kann. In Sicht- und Griffhöhe. Unten die Handtücher. Alles soll seinen bestmöglichen Platz haben. Wenn schon ich nicht immer den besten Platz einnehmen konnte. Morgen möchte ich mir ein paar hübsche neue Handtücher kaufen. Deren Farben gut zu den weißen Wandfliesen und dem grau gefliesten Boden passen. Klare, frische Farben. Meine sind beige, verwaschen und dünn geworden. Für Rom haben sie noch getaugt. Doch hier ist Vieles anders. Nicht nur das Licht, der freie Himmel, die bizarre Landschaft und die Stille. All dies wirkt sich auch auf mich aus. Ich fühle mich als eine etwas andere. Eine neue Seite an mir erkundend. Die Dinge neu sichtend und sortierend. Im Bad hat alles seinen Platz gefunden. Und auch ich, kommt mir in den Sinn.

Wir gehen hinauf ins Dorf. Der Belvedere hängt verlassen am Felsen, der kleine Hafen, die Marina Piccola, ein verschlafenes Idyll im endlosen Wellengrau. Tief taumelnde Wolken, als wären die Klammern an der Himmels-Wäscheleine, an denen sie wie Tischdecken hängen, die nach dem Waschen nicht ganz sauber geworden sind, diese Klammern ein wenig zusammengerutscht. Auf der Piazzetta ist noch nicht viel los. Die Läden sind bereits geöffnet, die Besitzer lesen in ihre Jacken gehüllt die Zeitung oder trinken einen Espresso und unterhalten sich miteinander über das Wetter und die Geschäfte. Eine Handvoll Kundinnen, teilweise begleitet von ihren Partnern, trottet mit den Einkäufen in die verschiedenen Richtungen. Im Vorbeigehen überspanne ich den hübschen Platz mit seiner Kirche, dem Turm, der Mauer und den Gassenschluchten mit einem wohlwollenden Blick und gebe einen Teil der Zufriedenheit, die ich von diesem Platz empfangen darf, den einzelnen Menschen in Gedanken mit auf den Weg. Über den Häusern kann man ausschnittsweise am anderen Berg Anacapri und einige Felder dazwischen erkennen. Autos tuckern, Hunde bellen, ein Gemurmel von Passanten und das Rufen von Kleinkindern. Antonio stellt mich den Ladenbesitzern vor. Wir kaufen ein und bezahlen getrennt. Lebensmittel, Haushaltsartikel und Handtücher. Zwei hellrote, zwei orange- und zwei türkisfarbene. Und die passenden Waschlappen sowie Gästehandtücher.
Na, du deckst dich ja schon für länger ein, schmunzelt Signore.

 

Birgit Heids Schreibprojekte

Ich arbeite derzeit an einem Roman über die Schriftstellerin Monika Mann. Darüber hinaus habe ich mich in den letzten Jahren auf die literarische Erforschung der neolithischen Massaker in Herxheim konzentriert. Meinen Werken lasse ich eine fundierte Recherche und ein tiefes Verständnis für die menschliche Geschichte angedeihen.



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